Ein Ort wie so viele, lange schon untergegangen in der Peripherie unserer Wahrnehmung. Eine grüne Monotonie an der man vorbeirauscht auf dem Weg zur Deponie Ostende, oder den Kleingartenanlagen entlang des Grenzweges zur Flussaue. Rechts liegen die betongrauen Anlagen der Kläranlage und ihren straßennah mitlaufenden Zäune. Links abgesenkt dunkelgrün-schwarze Erlenwälder, struppige Erlendickichte, hin und wieder graugrüne Inseln an Seggen dazwischen. Darüber werfen sich Teppiche aus wildem Hopfen. Vergessene und alleingelassene Orte, sie brauchen uns nicht, wir brauchen sie nicht, so scheint es. Und über allem thront, wie ein Hut auf die Landschaft gesetzt, der Deponie-Berg, die größte Erhebung der Gegend. Eine dünne Haut aus Erde und Gras überdeckt die tausenden Tonnen schlafender Altlasten. Schafe weiden darauf, als sollten Sie eine weitere Decke darüber ausbreiten, eine beschwichtigende „am Ende wird alles wieder gut“-Decke. In den Betrachtenden steigt eine Melange aus Unbehagen und Trost auf, bis sie wieder ihren Blick auf den Weg am Eichwerder setzten. Eine Ammoniak-Wolke der Kläranlage holt uns ein, bleibt unangenehm lange, wir stehen auf der Wiese am Eichwerder. Dahinvegetierendes Grün, Morast aus rotem Schlick, oxidiertem Eisen, schillert zwischen scharfkantigen Grasbulten. Die in Autos vorbeifliegenden Insassen blickt das eintönige Grün fatalistisch-furchteinflößend an, wie ein Tramper im Regen, an dem schon das 200erste Auto vorbeifährt.
Wir Menschen wohnen in dieser Gegend, wir haben es nie beschlossen und doch driftet unsere Wahrnehmung immer mehr fort von diesen vereinsamten Orten. Ihre Farben gehen zurück, verblassen zu wackelig zusammengenagelten grünen Kulissen, die wir durcheilen zwischen Alltagserledigungen und Erholungssport. Diese Orte torkeln über die Ränder unserer Wahrnehmung, stürzen und werden verschachert in einer unserer unzähligen Deponien des Unterbewusstseins und bleiben nicht mehr als ein fiebrig ominöses Flackern aus grünem Licht und Schatten.
Ähnlich dem Phantasialand aus der unendlichen Geschichte von Michael Ende, dass nur existieren kann, wenn Menschen an seine Existenz glauben, ihm eine Wichtigkeit beimessen. Durch unsere Aufmerksamkeit holen wir Orte in ihre Existenz. Orte der Phantasie wie aus Mittelerde, aber auch Orte die auf Landkarten verzeichnet sind, die aus Pflanzensaft und aufgewühlter Erde bestehen. Wie können wir unserer rastlosen Aufmerksamkeit einen Ort zeigen, an dem sie sich ausruhen mag? Ausruhen für eine tiefen Atemzug, durchzogen von Minze und Hopfen? Sich hineinzuträumen in den Blütenschlund einer lila getigerten Orchideenblüte? Zuversicht zu schöpfen aus den hochschnellenden Knipslauten der Sumpfschrecken. Zaghafte Einladungen:
Sammle Beinwellwurzeln für einen Breiumschlag, für das schmerzende Knie einer Freundin, bringe eine Thermoskanne mit heißem Wasser und gibt einen Viertel Stängel schmalblättriges Weidenröschen, von dort am Wiesenrand hinein, bleibe ein Weilchen sitzen, schlürfe den Geschmack der Wiese, lege dich auf eine schöne Decke verschwinde zwischen den Seggen, lass deine Vorstellungskraft die vorbeiziehenden Wolken betasten und kneten, wie hallt deine singende Stimme in dieser Landschaft, magst du sie hören?
Sich mit der Landschaft bekanntmachen, noch ein Stück näher rücken, so nah bis ihr Atem auf deinem nackten Arm Gänsehaut hinterlässt. Die Netze zwischen uns und den Wesen der Landschaft weben sich geräuschlos hinter unserem Rücken, Beziehungsfäden. Verheddern sich im Vorbeigehen, fern unseres analysierenden Blickes. Erinnerung bleiben unbemerkt haften, wie die Samen des Labkrauts und die Nussfrüchtchen des Nelkenwurzes. Sie weben sich beim Spazierengehen, stehen bleiben, sich wundern, oder was unsere Sache ist, beim Sensen und Harken der Wiesen. Beim Führen der Hand-Sense werden Pflanzenfasern zerschnitten, aber Beziehungsfäden geknüpft. Ohne Tod keine Leben:
Es ist als würde irgendwas einrasten, wenn ich dort stehe und die Sense in der Hand halte. Etwas dem ich mich gerne ein gutes Stück überlasse, dass mich ruhig sein lässt. Die Zeit verdichtet, konzentriert sich und scheint außerhalb dieser Wiese nur noch ganz zähflüssig zu fließen. Leicht in die Kniee gebeugt, werde ich vom Schwung der Sense geführt. Das klingende Schneiden durch Gras- und Kräuterfasern. Die Pflanzen legen sich zur Seite, bleiben liegen, als wären sie müde geworden, eingeschlafen. Einen Fußbreite nach vorn auf dem Moorboden, als würde man auf einem Wasserbett laufen. Wieder saust das Sensenblatt klingend, singend über den Boden hinweg. Beim Zurückschwingen, als würde man dem niedergeworfenen Gräsern und Kräutern noch einmal zur Beschwichtigung über den Kopf fahren, „in vier bis sechs Wochen blüht ihr wieder“. Wieder einen Fußbreit nach vorn. Farben und Blattformen, der duftende Zellsaft in der Luft.
„Am Eichwerder“, der Namen flüstert es schon zu, hier gibt es viel feuchten Grund und ausnahmsweise einen Werder mit Stieleichen bestanden. Früher vor der Kanalisierung der Finow durchflossen zwei-, dreimal im Jahr die ausufernden Hochwasserarme des ungezähmten Flusses den Werder. Teiche und Seen standen über den Winter weit ausgebreitet in der Landschaft. Lange her, noch weit bevor die Urgroßmutter geboren war. Nun stehe ich hier auf der künstlich aufgeschütteten Böschungskante über den feuchten quelldurchsickerten Flächen, ein Werder immerhin.
Ein weiterer Schritt nach vorn, ein Sausen ein Schneiden, ein Fallen. Das Grün legt sich in einem Haufen der geradlinig wirken soll rechts von meiner Laufbahn als Schwaden ab. Das Ausholen und Schneiden vollzieht sich immer mehr wie ein entschleunigtes Uhrwerk, Arme und Beine funktionieren einfach, der Geist kann sich führen lassen, Ruhe tritt ein und Blüten tauchen auf im Meer aus Grüntönen. Wenn alles stimmt entfacht das Zusammenarbeiten in seinen besten Momenten eine Art entrücktem Zeitstillstand. Wobei nicht die Zeit vor Ort stehenbleibt, sondern die aller anderen Uhren außerhalb dieses Ortes.
Jedes Jahr vertieft und spannt sich diese Netz an der Eichwerder Wiese neu und von einer wortkargen entfernt Bekannten ist sie zu einer guten Freundin geworden. Wie eine Kantate, die man erst nach mehrmaligen hören vertieft und immer wieder neu versteht. Diese Verbindung ist lebendig, taucht ab, lässt los, taucht unter, taucht wieder auf, umarmt mich in Variationen, lässt mich berührt stehen irgendwo in den Wiesen des Finowtals. Diese Wiese hat einen Charakter, an manchen Tagen sogar eine Persönlichkeit. Wir kennen uns, nicken uns stumm zu. Sie war immer alt und jung zugleich, hängt sich trotzig ans Leben, quellnass, lebensspenden. Mosquitos die in den Schatten lauern und scharfe Seggenkanten verraten eine Launenhaftigkeit. Im zittrigen Flügelschlag der Dickkopffalter schwirrt eine gelöste Gesprächigkeit an die Oberfläche. Eine geheimnisvolle Sentimentalität leuchtet aus Amselföten und morgendlichen Herbstnebeln herüber.
Aufbruch, zufriedene Müdigkeit hängt sich an meinen Körper. Auf den Armen brennen die Mikroschnitte der scharfen Seggen. Begegnungen mit koketten Sumpf-vergiss-mei-nicht, die schwelgende Blüten des Knabenkrautes, duftende Dickichte an Baldrian und Wasserminze, protzender Beinwell. Sie alle legen sich als unmerkbare Sediment in meiner Erinnerung ab
Vor uns mähten einige Generationen diese Wiesen: Für Streu, für Kaninchenfutter, für Pferde, es war ein Teil eines in sich abgestimmten Wirtschaftens mit der Landschaft. Es kitzelt in mir, dieser Faden, von den Generationen vor uns aufgenommen, einmal mehr ein Jahr weiter zu tragen. Die bunte Gestalt der Wiese ist unumstößliche Zeugin, dieser Begegnung über die Alters-Horizonte hinweg.
Schaut man genauer, sieht man rostige Leitungsrohre auf der Wiese stehen. Verfallene Grenzen, die noch vor wenigen Jahrzehnten Grünfutter-Parzellen rahmten. Ein Todesurteil für jede unbedacht geschwungene Sense. Wird jemand diesen Faden aufnehmen, wenn wir nicht mehr hinausfahren? Wird diese Wiese sinken unter die Oberfläche unserer Aufmerksamkeit, so wie die hunderten anderer Orte die sie umgeben? Was wird stattdessen sein?
Aus den höher gelegenen Hängen bahnen sich neue Quellwege blind Durchlass durch Erde und Gras, roter Eisenocker rieselt durch die Wiese. Ein unsichtbarer Tanz, ohne Ziel und Zeit, in manchen Momenten sind wir ein Teil davon.
Danke, Matthias. Meine Beziehung zum Eichwerder ist sicher nicht so intensiv wie deine, aber sie stellt sich durch das gemeinsame Arbeiten ein. Und ein wenig auch durch das Wissen um ihre Geschichte und die Gründe, warum sie so aussieht.
Vielleicht sollten wir die Wiesenmahd noch öffentlicher machen? Wenn dadurch ein sonst nur im Vorbeifahren wahrgenommenes verschwommenes Grün, eine scheinbar nutzlose Rand- und Brachfläche, zu etwas Verstandenem wird, ist das doch die beste Art von Umweltbildung.